Nr. 04/2021
Trotz erschwerter Bedingungen mehr Verfahren erledigt
Die hessische Sozialgerichtsbarkeit hat gezeigt, dass auch in Zeiten einer Pandemie die Menschen mit ihren oft existentiellen sozialrechtlichen Anliegen auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vertrauen können. Die sieben Sozialgerichte sowie das Hessische Landessozialgericht haben sich den besonderen Herausforderungen im Spannungsfeld von Justizgewährleistungsanspruch und Gesundheitsschutz gestellt. Durch vielfältige Maßnahmen wurde den Gesundheitsgefahren sowohl für die Verfahrensbeteiligten als auch für die in der Justiz Beschäftigten begegnet und zugleich effektiver Rechtsschutz in vollem Umfang weiter gewährt.
„Die hessischen Sozialgerichte haben trotz der durch die Pandemie erschwerten Bedingungen im vergangenen Jahr 23.758 Verfahren erledigt. Das übertrifft die Anzahl der im gleichen Zeitraum neu eingegangenen Verfahren. Dies ist ein sehr beachtliches Ergebnis und unterstreicht in besonderem Maße die Handlungs- und Funktionsfähigkeit der hessischen Sozialgerichtsbarkeit.
Hierzu beigetragen hat neben der in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit weit fortgeschrittenen Digitalisierung vor allem der besondere Einsatz aller Beschäftigten, die trotz der eigenen Sicherheitsbedürfnisse stets für die Gewährung eines effektiven Rechtschutzes eingetreten sind. Ihnen gilt mein besonderer Dank“, betonte der Präsident des Hessischen Landessozialgerichts Dr. Alexander Seitz anlässlich der Vorstellung der Jahresbilanz.
23.245 neue Klage- und Eilverfahren im Jahr 2020
Im vergangenen Jahr sind 23.245 neue Klage- und Eilverfahren an den hessischen Sozialgerichten eingegangen. Nach den Rekordeingängen in den Jahren 2018 (27.879)und 2019 (26.835) entspricht dies dem Durchschnitt der Eingangszahlen der Jahre2011 bis 2017. Beim Landessozialgericht sind 1.960 neue Berufungs- und Beschwerdeverfahren sowie erstinstanzliche Verfahren für das Jahr 2020 zu verzeichnen - nahezu gleich viele wie im Vorjahr (2019: 2.003 Verfahren).
Fast jedes dritte Verfahren betrifft das Krankenversicherungsrecht
Der Gerichtspräsident Dr. Seitz erläutert: „7.310 Verfahren und damit 31 % aller im vergangenen Jahr neu an den Sozialgerichten eingegangenen Verfahren betreffen den Bereich des Krankenversicherungsrechts. Damit ist in fast jedem dritten Rechtsstreit über krankenversicherungsrechtliche Fragen zu entscheiden. Das Krankenversicherungsrecht ist somit nach den Klagewellen in den Jahren 2018 und 2019 auch weiterhin am stärksten vertreten. Im Vergleich dazu sind im Rentenversicherungsrecht 2.355 Verfahren, im Unfallversicherungsrecht 1.117 Verfahren, im Arbeitsförderungsrecht 1.494 Verfahren, im Schwerbehindertenrecht 2.987 Verfahren, im Bereich Grundsicherung für Arbeitsuchende (Hartz IV) 5.058 Verfahren sowie im Bereich Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Sozialhilfe) einschließlich Asylbewerberleistungsgesetzweitere 1.451 Verfahren zu verzeichnen“.
Umfassende Digitalisierung in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit
Die Digitalisierung in der hessischen Sozialgerichtsbarkeit ist bereits sehr weit vorangeschritten. Seit vielen Jahren sind an den hessischen Sozialgerichten und dem Landessozialgericht flächendeckend durchgängig elektronisch geführte Gerichtsverfahren möglich.
Das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP), das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA), die besonderen elektronischen Behördenpostfächer (beBPo), die De-Mail und das digitale Telefaxsystem (Digifax) werden in großem Umfang genutzt. Zunehmend übermitteln die am Rechtsstreit beteiligten Behörden zudem elektronische Verwaltungsakten. So erfolgt die Kommunikation zwischen den Sozialgerichten und der Bundesagentur für Arbeit sowie den nicht kommunalen Jobcentern seit Herbst 2020 vollständig elektronisch.
„Die hessische Sozialgerichtsbarkeit ist aufgrund der bereits durchgeführten umfangreichen Digitalisierungsmaßnahmen und den vielfältigen praktischen Erfahrungen mit dem elektronischen Rechtsverkehr auf die ab dem Jahr 2026 für alle Gerichte geltende Pflicht zur elektronischen Aktenführung schon jetzt sehr gut vorbereitet.
Mit dem in Kürze am Sozialgericht Kassel startenden Pilotprojekt ‚Elektronische Prozessakte‘ wird darüber hinaus ein wichtiger Beitrag zur Einführung der elektronischen Aktenführung in der hessischen Justiz geleistet. Ein bedeutender Schritt auf dem Weg zum papierlosen Büro“, so der Vizepräsident des Hessischen Landessozialgerichts De Felice.
Homeoffice und Videokonferenz
Die weit fortgeschrittene elektronische Aktenführung sowie die gute technische Ausstattung der hessischen Sozialgerichtsbarkeit haben darüber hinaus die Richterschaft in kürzester Zeit in die Lage versetzt, die Verfahren im Homeoffice zu bearbeiten. Ferner konnten mittels entsprechender Hard- und Software Verfahrensbeteiligte während Verhandlungen per Videoübertragung von einem anderen Ort in den Gerichtssaal zugeschaltet werden. Darüber hinaus wurden in zahlreichen Verfahren Telefonkonferenzen durchgeführt, die eine mündliche Verhandlung entbehrlich machten. „Dies hat in Zeiten der Pandemie erheblich zur Kontaktreduzierung an den Gerichten und damit zu einer sicheren Prozessführung beigetragen“, betonte De Felice.
Sozialgerichtlicher Rechtsschutz auch in Zeiten der Pandemie
„Die hessische Sozialgerichtsbarkeit konnte zu jedem Zeitpunkt der Corona-Pandemie die gerichtliche Tätigkeit aufrechterhalten. Klagen und Anträge konnten durchgehend bei Gericht eingereicht werden, die Rechtsantragstellen waren jedenfalls telefonisch erreichbar. Der Sitzungsbetrieb war lediglich in den ersten Wochen der Pandemie reduziert. Während dieser Zeit wurden - soweit rechtlich zulässig und in der Sache angemessen- Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung getroffen und Vergleichsvorschläge angeregt. Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes werden ohnehin grundsätzlich im schriftlichen Verfahren entschieden, so dass der gerichtliche Rechtsschutz von Sozialleistungsberechtigten, die dringend auf Leistungen angewiesen sind, zu keiner Zeit eingeschränkt war. Bereits nach wenigen Wochen wurde der reguläre Sitzungsbetrieb- nunmehr unter besonderen Hygienemaßnahmen - wieder aufgenommen“, resümierte Dr. Seitz.
Coronabedingte Rechtsfragen vor den Sozialgerichten
Bei den hessischen Sozialgerichten sind bereits hunderte Verfahren mit pandemiebedingten Rechtsfragen eingegangen. Dies betrifft insbesondere die Rechtsgebiete Grundsicherung (Hartz IV sowie Sozialhilfe) und Arbeitsförderung. Streitig ist dabei unteranderem die Erstattung der Kosten für FFP2-Masken, die Bewilligung von Laptops oder Tablets oder die Glaubhaftmachung von Umsatzeinbußen. In weiteren Verfahren geht es um Sanktionen bzw. Sperrzeiten wegen Nichtteilnahme an Maßnahmen oder Vorstellungsgesprächen. Zunehmend wird um die Bewilligung von Kurzarbeitergeld gestritten. Vermehrt werden auch Klagen auf Feststellung der Schwerbehinderung wegen des damit verbundenen Kündigungsschutzes erhoben. Vereinzelt begehren Versicherte schließlich Krankenbehandlung im Ausland aus Angst vor einer Rückreise.
„Zukünftig werden“, so betonte der Präsident des Landessozialgerichts, „die Sozialgerichte auch in coronabedingten Verfahren aus den Bereichen Unfallversicherungsrecht (Covid-19 als Arbeitsunfall von Beschäftigten, Schülerinnen und Schülern sowie Kindern in Kindertagesstätten), Soziales Entschädigungsrecht (Impfschäden) sowie Krankenversicherungsrecht (Krankenhausabrechnungen) zu entscheiden haben“.
Hohe Verfahrenseingänge auch für dieses Jahr zu erwarten
In den letzten Monaten hat die Anzahl der coronabedingten Verfahren bereits deutlichzugenommen. Darüber hinaus sind aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Situation vieler Versicherten und Leistungsbeziehenden weiter ansteigende Verfahrenszahlen in den Bereichen der Grundsicherung (Hartz IV und Sozialhilfe) zu erwarten. Ferner werden zahlreiche Verfahren aus dem Krankenversicherungsrecht (insbesondere Abrechnungsstreitigkeiten zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen) zu verzeichnen sein. Die Prognose von Dr. Seitz: „Für die hessische Sozialgerichtsbarkeit kann schon jetzt auch für dieses Jahr von hohen Verfahrenseingänge ausgegangen werden“.
Die Justiz ist systemrelevant: Impfschutz mit besonderer Priorität
„Die hessische Sozialgerichtsbarkeit hat im vergangenen Jahr ihre Leistungsfähigkeit auch in Pandemie-Zeiten gezeigt. Gerade in Krisenzeiten wird besonders deutlich: Die Justiz ist systemrelevant. Damit gerichtlicher Rechtsschutz auch in den nächsten Monaten wie bisher gewährleistet werden kann, ist es von besonderer Dringlichkeit, allen Bediensteten in der Justiz einen Anspruch auf Schutzimpfungen mit besonderer Priorität zu gewähren. Im Rahmen von mündlichen Verhandlungen halten sich regelmäßig zahlreiche Personen in eher kleinen Sitzungssälen über einen längeren Zeitraum auf. Das damit verbundene Ansteckungsrisiko wird bereits mit einem umfassenden Hygiene-Konzept einschließlich der aktuellen Antigen-Schnelltests von Bediensteten maßgeblich reduziert. Wichtig ist nunmehr als weitere Maßnahme ein frühzeitiger und damit der Systemrelevanz der Justiz entsprechender Impfschutz der Bediensteten“, betonte abschließend der Gerichtspräsident Dr. Seitz.