Hessisches Landessozialgericht Darmstadt

Handbike für querschnittsgelähmten Versicherten

Krankenkasse muss elektrische Rollstuhlzughilfe mit Handkurbelunterstützung gewähren.

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Nr. 12/2021

Versicherte haben gegenüber der Krankenkasse einen Anspruch auf Hilfsmittel, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen. Hierzu kann im Fall eines querschnittsgelähmten Versicherten ein Handbike gehören. Dies entschied in einem heute veröffentlichten Urteil der 1. Senat des Hessischen Landessozialgerichts.

Querschnittsgelähmter Versicherter beantragt Handbike

Ein 1958 geborener Versicherter aus dem Wetteraukreis ist infolge eines mit 20 Jahren erlittenen Unfalls querschnittsgelähmt und mit einem Faltrollstuhl ausgestattet. Er beantragte gegenüber der Krankenkasse die Versorgung mit einem Handbike - einer elektrischen Rollstuhlzughilfe mit Handkurbelunterstützung, welche an den Faltrollstuhl angekoppelt werden kann. Ohne dieses Hilfsmittel könne er Bordsteinkanten nicht überwinden sowie Gefällstrecken nicht befahren und daher nur unzureichend am öffentlichen Leben teilnehmen. Auch fördere es seine Beweglichkeit und reduziere Muskelverspannungen im Schulter-Arm-Bereich. Zudem könne er das Handbike selbstständig an den Faltrollstuhl ankoppeln. Um einen Elektrorollstuhl, den die Krankenkasse ihm angeboten hatte, nutzen zu können, sei er hingegen auf eine entsprechend qualifizierte Hilfskraftangewiesen, die ihn beim Umsetzen unterstütze.

Die Krankenkasse lehnte die Versorgung mit dem ca. 8.600 € teuren Hilfsmittel ab. Der Kläger könne sich den Nahbereich mit den vorhandenen Hilfsmitteln und dem angebotenen Elektrorollstuhl (Kosten ca. 5.000 €) ausreichend erschließen.

Behinderungsausgleich soll selbstbestimmtes Leben dienen

Die Richter beider Instanzen bejahten einen Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit der begehrten elektrischen Rollstuhlzughilfe. Versicherte hätten Anspruch auf Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich. Das Grundbedürfnis nach Mobilität sei durch Erschließung des Nahbereichs zu ermöglichen. Hierbei sei insbesondere das gesetzliche Teilhabeziel, ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen, zu beachten. Der Behinderungsausgleich mittels Hilfsmittel sei nicht auf einen Basisausgleich beschränkt.

Der Versicherte sei nicht im Hinblick auf das Wirtschaftlichkeitsgebot auf den von der Krankenkasse angebotenen Elektrorollstuhl zu verweisen. Denn diesen könne er nur nutzen, wenn er von einer Pflegekraft entsprechend umgesetzt werde. Der querschnittsgelähmte Mann habe keine Greifkraft in den Händen, mit welcher er beim Befahren z.B. von Bordsteinkanten die erforderlichen Kippbewegungen des Rollstuhls ausführen und auf Gefällstrecken bremsen könnte. Mit dem motorisierten Handbike sei es ihm hingegen möglich, Bordsteinkanten und andere Hindernisse zu überwinden. Auch könne er das Handbike ohne fremde Hilfe direkt an den Faltrollstuhl anbringen. Bei anderen von der Krankenkasse angebotenen Rollstuhlzughilfen sei er hingegen für die Montage auf fremde Hilfe angewiesen. Damit lägen keine Anzeichen dafür vor, dass eine Versorgung mit einem Handbike das Maß des Notwendigen überschreite.

(Az. L 1 KR 65/20 - Die Revision wurde nicht zugelassen. Das Urteil wird unterwww.lareda.hessenrecht.hessen.deÖffnet sich in einem neuen Fenster ins Internet eingestellt.)

Hinweise zur Rechtslage

§ 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V)

(1) Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4ausgeschlossen sind. (…) Wählen Versicherte Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen.

§ 12 SGB V

(1) Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.

§ 11 SGB V

(2) (…) Die Leistungen nach Satz 1 werden unter Beachtung des Neunten Buches erbracht, soweit in diesem Buch nichts anderes bestimmt ist.

§ 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX)

(1) Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. (…)

§ 8 SGB IX

(1) Bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe wird berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen.
(…)

Art. 3 Grundgesetz (GG)

(3) (…) Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Art. 20 UN-Behindertenrechtskonvention – Persönliche Mobilität

Die Vertragsstaaten treffen wirksame Maßnahmen, um für Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen (…)

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